Donnerstag, 1. Oktober 2009


Sie hob nur kurz den Kopf, als ich blinzelnd aus dem Schatten trat, und steckte ihn wieder mit den anderen zusammen. Was mochte sie über uns erzählen? Oder behütete sie unsere Geheimnisse ebenso wie ich?
Eng umschlungen tanzte der leichte Windhauch mit den Sonnenstrahlen, und wer wollte sagen, ob die Wärme das Gras unter meinen nackten Füßen aus der Erde lockte, oder Durst es schon wieder klein machte. Der Sommer schwoll mit aller Kraft an, die ihm das Frühjahr mitgegeben hatte.
An einen rohen Pfahl gelehnt lauschte ich dem Summen der Bienen im Kräutergarten hinter mir und dem lautlosen Klappern bunter Schmetterlingsflügel.
Unsere Blicke hatten sich kurz getroffen, jetzt musste ich warten.
Geheimnisvollen Mustern folgend schossen Schwalben unter dem weit gespannten Himmelstuch dahin, als wollten sie Tücher weben für das neue Leben künftiger Tage.
Viel zu selten war ich hier, viel zu knapp immer die Zeit. Dabei war hier das Leben näher als dort, wo ich lebte. Es wurde mir bewusst, sobald ich mich ihr näherte, und ich vergaß es wieder, sobald ich fort war. Können wir jemals die Zyklen verstehen, die uns durch unser Dasein tragen?
Ich nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche und spürte darin das Plätschern des kleinen Baches, aus dem ich sie gefüllt hatte. Es schmeckte wie ein Stück Waldschatten.
Nachdem ich den Rucksack wieder geschnürt hatte, wollte ich ihr zum Abschied noch einmal still winken, bis zum nächsten Mal dann eben. Sie nickte, schob sich zwischen ihren Freunden hindurch und kam auf mich zu.
Ich hielt ihrem Blick stand, bis mir schwindelig wurde.
Vertrautheit und Vertrauen. Wenn wir ihm endlich begegnen, verschlägt es uns den Atem.
Nichts geht tiefer, als ihr in mich versenkter Blick.
Ich streckte die Hand aus, wollte sie endlich ganz nah bei mir haben, sie berühren, sie fühlen. Sie ließ mich wieder warten. Wieder war es nicht an mir, zu ihr zu gehen, auch nicht dieses Stück. Sie würde es nicht dulden.
Dann lag ihr Kopf auf meiner Schulter. Ihr Haar rieselte dicht durch meine Finger, wieder und wieder, fest und sonnenwarm. Unter der Haut an ihrem Hals pulsierte das Blut, auch dort lebte die Wärme.
Da war wieder die Erinnerung, alt wie Bilder aus Kindertagen, ein Traum, den man geträumt hat und vergisst, wenn man erwacht. Er flüchtet in die Illusion, nachdem er in der Nacht unsere Wirklichkeit war.
Dieses Sehnen in mir hatte es immer gegeben, den Wunsch nach Geborgensein und Vertrautheit. Nach wortlosem Verstehen und Verständnis. Alles, was gesagt werden könnte, konnte ungesagt bleiben in der Gewissheit, dass jeder vom anderen alles wusste. In dem Moment, in dem die Blicke sich fanden.
Worte können alles zerstören in dieser Welt, und sie lassen Vertrauen sterben. Aber sie können es nicht erzwingen oder neu erschaffen, sobald es einmal verloren ging. Vertrauen erwächst aus dem Gefühl heraus, zu Hause zu sein.
Vertrautheit entsteht aus Schweigen. Vertrauen wächst auf dem unbebauten Feld.
Doch zu träumen allein reicht nicht, um gesund zu bleiben in Herz und Seele.
Der Mensch muss sich reiben an seinen Begegnungen, und seine Vorstellungen von der Welt an dem, was sich die Welt von ihm vorstellt. Es gibt einen Entwurf im Innern, in den es hineinzuwachsen gilt.
So wie die Jahreszeiten das Wachsen unterstützen, machen sie es auch stark, indem sie es herausfordern. Der Regen des Frühlings bringt das im Winter eingefrorene Leben zurück und nährt das Wachsen. Der Sommer trocknet die Blüten zu Früchten, denen die Sonne ihre Süße schenkt, damit im Herbst geerntet werden kann, Jahr um Jahr. Im Winter schläft alles, was nicht erfriert, in der klirrenden Kälte. Was die Frühjahrsstürme nicht ausreißen, was die Sommersonne nicht verdorren lässt, der Herbst nicht verwirft, indem er es vorzeitig von den Ästen fegt, und es am Boden verfault, das wird wieder Ernte bringen, mehr als in den Jahren zuvor. Was sich reibt in den Rhythmen der Tage und Nächte, sich nicht aufreiben lässt in den Schwingungen des Lebens, das ist das, was durch jeden Zyklus geht, um neugeboren zu werden. Und mit jeder Geburt stärker zu sein.
Ich lauschte dem warmen Gesang unter ihrer Haut, versuchte zu ergründen, wie viele Zyklen sie schon durchlaufen hatte in diesem Leben. Doch ihr Blut sprach seine eigene Sprache. Es war gut, hier zusammen zu schweigen.
Zwei ihrer Gefährten hatten sich neugierig genähert. Als wir uns nicht stören ließen, gingen sie ihrer Wege, und respektierten so unseren Wunsch nach Alleinsein zu Zweit.
Wo bleiben unsere Träume aus Kindertagen?
Bis zu diesem Augenblick hatte sich mein Traum von Vertrauen und Vertrautheit versteckt in mir, wie nie da gewesen. Ich erinnerte mich nicht einmal daran, ihn geträumt zu haben.
So ist es mit dem Plan von uns selber. Wir kennen ihn, sonst hätten wir uns nicht auf den Weg machen können. Der Entwurf ist das Ziel, ohne das es keinen Weg gibt. Wir vergessen es mit der Zeit, vergessen, warum wir uns auf den Weg gemacht haben. Irgendwann stolpern wir einfach weiter. Wo wollen wir ankommen, wenn wir nicht wissen, dass es ein Ankommen gibt?
Ihr Kopf wurde schwer, doch ich blieb stehen ohne mich zu regen. Nur mein Atem bewegte sich, ruhig jetzt und tief und friedlich. Der dichte Duft ihrer Haut strömte in mich, alles war gut. Ich hielt aus, denn wie können wir wissen, wann es ein Wiedersehen gibt? Diese Minuten sollten in meiner Erinnerung lebendig bleiben, so, wie sie durch den Sommertag flossen.
Plötzlich stieß sie mich fast zur Seite. Einen Schritt entfernt waren da wieder nur ihre Augen. Grenzenlose Tiefe und Vertrautheit. Ihr letztes Nicken wie eine leichte Verbeugung, gemächlich schritt sie zurück und mischte sich unter ihre Gefährten. Bereits in diesem Weggehen vermisste ich sie.
Das Rascheln im Gras hinter mir ließ mich wiederum wie aus einem Traum erwachen, aber diesmal nahm ich alle Erinnerungen mit.
„Du triffst dich mit einer anderen“, sagte Ela, „kaum dass ich weg bin?“
Sie zog ihre Hand weg, als ich danach greifen wollte.
„Ich kenne sie schon so lange“, sagte ich.
„Dann ist es also okay, weil sie eher da war als ich?“
„Das hier“, ich wies nach hinten, wo sie immer noch stand in der Gruppe, neugierig, was wohl hier gerade passierte, „ist doch ganz etwas anderes.“
„Komisch nur, dass sie so schnell verschwunden ist, als ich auftauchte.“
„Sie hat schon immer gemacht, was sie will.“
„Seit wann stehst du denn auf so was?“
„Manche Beziehungen funktionieren nur, wenn man sich aneinander anpasst.“
Sie wischte die Haare aus der Stirn, die der Wind ihr immer wieder in die Augen wehte. Sonnenstrahlen blitzten in ihren Pupillen wie Klingen. Lautlos fochten wir mit unseren Blicken.
„Na komm schon“, versuchte ich es noch einmal, „du weißt, dass das für unsere Beziehung nichts zu bedeuten hat.“
Ela ließ den Blick nicht von ihr. „Ich will sie kennen lernen!“
„Was?“
„Wenn es so sein muss, will ich es wenigstens verstehen.“
Die Andere war in der Menge untergetaucht, war nur noch ein Stück von hinten zu sehen. „Dann müssen wir bis zum nächsten Mal warten“, sagte ich, „zweimal an einem Tag kommt sie nie.“
„Du kennst sie besser“, wandte sich Ela schließlich ab. „Und wenn es nicht anders geht, dann eben beim nächsten Mal. Versprochen?“
Ich nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Das Sonnenlicht prickelte über unsere Haut, und es wurde Zeit für uns. Hand in Hand gingen wir durch das Gras, das unsere Waden bis zu den Knien umspielte.
„Hast du gesehen“, fragte ich und sah über die Schulter zurück, „dass sie eine herzförmige Blesse hat?“
Ela nickte und lächelte zum ersten Mal wieder. „Habe ich“, sagte sie. „Und ein bisschen kann ich dich ja jetzt schon verstehen, wirklich. Sie ist die schönste schwarze Stute, die ich je gesehen habe.“

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