Donnerstag, 1. Oktober 2009


LILITH

I
Nur was wir einmal wussten, konnten wir vergessen. Was wir vergaßen, daran können wir uns erinnern.
Manchmal erinnern wir uns nicht mehr daran, dass wir etwas gewusst haben. Wir haben es nicht nur vergessen, sondern sogar vergessen, dass wir es vergessen haben. Schlimmer. Wir haben es verdrängt.
So war es mit Lilith. Ich hatte versucht mir einzureden, dass es sie nicht gab, dass es sie nie gegeben hatte, nie gegeben haben konnte. Bis zu dem Moment, in dem sie vor mir stand. Ihre Existenz, was sie mir bedeutete, hatte ich einfach verdrängt. Weil ich sie nicht vergessen konnte.
Da stand sie. Und lächelte. Lächelte, sah mich an mit ihren großen, klaren Augen und stand vor mir. Ihr Lächeln wärmte mich, die nach oben gebogenen Mundwinkel wiedererweckten einen Traum, zogen mich an, unwiderstehlich. Ein Licht schien auf, fern und leis, mehr geahnt als gesehen. Wie sollte ich mich fühlen? Eine Wand schob sich vor das kleine Licht, dahinter, hinter der Wand aus Hilflosigkeit und Trotz, verbarg ich meine Reaktion. Vielleicht war es Feigheit? In diesen Sekunden wusste ich es nicht. Nichts wusste ich in diesen Sekunden.
Die Reaktion wollte sich nicht länger verstecken, oder konnte es nicht. Ich gab dem Impuls nach und tat, was allein richtig war. Mit zwei Schritten überbrückte ich den Raum zwischen uns und nahm sie in die Arme. Hielt sie fest, ohne Druck, voller Nachdruck. Hielt sie fest, hielt mich an ihr fest, wie sie sich an mir. Irgendwann setzte im Halbdunkel meines Kopfes ein erster, zaghaft flackernder Gedanke ein: Bitte, lass es nicht wieder vorbei sein!
„Du bist zurück“, flüsterte ich an ihrem Ohr, um etwas zu sagen.
Sie antwortete schweigend, zog mich enger an sich, wollte in mir verschwinden, ganz und ganz.
Ich spürte ihren Herzschlag auf meiner Brust klopfen, konnte ihn hören, tief in meinem Innern, kräftig und blutvoll. Das Echo der Stimme meines eigenen Herzens. Und umgekehrt. Sie sprechen jedes seine eigene Sprache, unsere Herzen. Der Refrain ist es, der immer gleich ist und dadurch den Gleichklang schafft; neue Dimensionen erschafft. Wenn wir uns füreinander öffnen. Das Wagnis eingehen, nackt dazustehen. In wahrer Nacktheit, die auch die Kleider nicht verdecken kann. In unserer Ursprünglichkeit, in dem, was uns als Erbe geschenkt und anvertraut ist.
Wir wurden vor langer Zeit schon für würdig befunden, könnt ihr euch erinnern? Dazu wurde uns großes Vertrauen geschenkt. Groß? Grenzenlos! Ist es das nicht, ist es kein Vertrauen. Dann ist es nur ein Maß an Erwartung, das man dem anderen vorschreibt. Wie ehrlich ist das?
„Ich habe dich vermisst“, sagt sie.
Jetzt kann ich nur schweigen. Ihre vier Worte klingen in mir wider, wieder und wieder, viel zu schön, als dass ich ihre Melodie unterbrechen möchte.
Ich atme den Duft ihrer Haut, nach und nach füllt er mich aus. Mit jedem Luftholen verstärkt er sich, blüht auf in der Wärme der gehauchten Küsse, die ich in ihrer Halsbeuge versenke.
Ein Schauer regnet über ihren Rücken, sie seufzt. Wir stehen und halten uns fest. Können uns nicht loslassen. Wollen es nicht.
Lass es nie mehr vorbei sein!


Mein Erwachen schneidet sich in die Bilder, schneidet sie entzwei. Zersplittert sie in Steinchen, bunt und glänzend, lässt alles in die ungezählten Teile eines Puzzles zerspringen, das sich dem Ganzsein entzieht durch unrettbare Vereinzelung. Nichts passt mehr, nichts kann je wieder passen.
Ich stürze. Nicht vom Paradies hinab in die Hölle, oder noch tiefer. Nein. Ich rutsche lediglich aus auf der Eisbahn meiner Träume und komme hart auf dem felsig rauen Untergrund der Täglichkeiten meines Lebens auf. Ich komme zurück aus meinen Träumen. Oder ist es so, dass ich zurückkomme in einen Traum?
Das Bett neben mir erwacht genauso unbenutzt wie gestern Morgen. Unbenutzt wie immer. Wovon mag es geträumt haben?
Die Luft um mich herum ist kein Gemisch. Sie ist angefüllt mit mir, steht im Raum, schwebt über mir, zwischen mir und der Zimmerdecke. Das ist zu wenig. Um fließen zu können, muss die Luft sich mischen, mein Atem mit dem eines anderen Menschen. Gemeinsames Fließen, erst das ist Leben.
Im Spiegel neben dem Bett liegt Lilith neben mir. Vor dem Spiegel bin ich allein. Sie ist es dahinter, ich kann sie nicht berühren in diesem Tagtraum.
Ich bin allein, wie jeden Morgen. Wie immer. Das ist zu oft.

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Motto

Lisboa, Lisboa, Portugal
“The aim of life is self-development. To realize one's nature perfectly--that is what each of us is here for. People are afraid of themselves, nowadays. They have forgotten the highest of all duties, the duty that one owes to one's self.” Oscar Wilde